Cover
Titel
Reformen jenseits der Revolte. Zürich in den langen Sechzigern


Herausgeber
Hebeisen, Erika; Hürlimann, Gisela; Schmid, Regula
Erschienen
Zürich 2018: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
164 S.
Preis
€ 48,00
von
Andreas Schwab, Zeitgeschichte, Universität Fribourg

Pünktlich zum fünfzigsten Jubiläum von 1968 sind zwei thematisch verwandte Sammelbände über die 68er-Bewegung in den Städten Zürich und Bern erschienen. Stärker noch als frühere Publikationen sind sie weggerückt von den medial transportierten Bildern von 1968 als dem Jahr der «Studentenunruhen» und den Auseinandersetzungen auf der Strasse. Die Akteursperspektive ist einem distanzierteren Blick auf die «langen Sechziger Jahre» vom Sputnik-Schock 1957 bis zu den Ausläufern in den 1970er Jahren gewichen.

An vielen Beiträgen wird deutlich, wie sehr sich die Selbstverständlichkeiten, die zu Anfang der 1950er Jahre noch festgefügt waren, zu wandeln begannen, wie sich ein neues gesellschaftliches Paradigma zu etablieren begann, das teilweise bis heute andauert. In beiden Publikation liegt der Fokus stärker auf den gesellschaftlich-kulturellen als auf den politischen Entwicklungen, was gut nachvollziehbar ist, da hier langfristig die viel bedeutsameren Auswirkungen zu verzeichnen sind.

Besonders ertragreich erscheinen Beiträge wie im Zürcher Band derjenige von Daniel Speich Chassé, in denen gezeigt wird, wie sehr sich die einzelnen Diskursebenen durchdrangen, die gemeinhin mit 1968 in Verbindung gebracht werden. Der Psychiater Berthold Rothschild, um ein Beispiel herauszugreifen, war in Paris mit den Debatten über die koloniale Vergangenheit Frankreichs in Berührung gekommen, 1967 hatte er den Sechstagekrieg in Israel aus der Nähe verfolgt. 1969 nahm er an der Gründungsversammlung der Antipsychiatriebewegung in Rom teil, weiter war er treibendes Mitglied beim Aufbau der Homosexuellen Arbeitsgruppe Zürich (HAZ). Nachdem er an einer Kundgebung der Frauenbefreiungsbewegung (FBB) mit einem Penis aus Karton auf Frauen eingeschlagen hatte, wurde seine Stelle am Psychologischen Institut der Universität Zürich gestrichen. So organisierte er nach US-amerikanischem Vorbild 1971 eine eigentliche Gegenuniversität in Zürich.

Überhaupt waren die 1960er Jahre geprägt von zahlreichen Umbrüchen im Bildungsbereich. Anne Bosche beschreibt in einem erhellenden Beitrag, wie zwanglosere Unterrichtsformen in die Zürcher Volksschule Einzug hielten. Im Kontext des Religionsunterrichts wurde das Fach Lebenskunde neu geschaffen, in dem Themen wie Drogenmissbrauch oder Sexualität behandelt wurden.

Doch mussten diese Veränderungen mitunter hart erkämpft werden, wie der Beitrag von Jakob Tanner über die Ostermarschbewegung deutlich macht. Am vierten Ostermarsch in der Schweiz, der 1966 von der schweizerischen Bewegung gegen die atomare Aufrüstung organisiert wurde, nahmen rund 350 Friedenswillige teil. Doch sie sahen sich mit einer massiven medialen Opposition konfrontiert: Der Schweizerische Aufklärungsdienst, faktisch eine private Staatsschutzorganisation, führte eine orchestrierte Kampagne, in der die Aktivisten als Kommunisten diffamiert wurden. Echte Schweizer, so der Tenor, hätten es nicht nötig, ihren Protest auf der Strasse auszudrücken, sie könnten an der Urne abstimmen und wählen gehen. Insgesamt kann Tanner überzeugend ausführen, wie anhand der Atomwaffendiskussion das politisch-kulturelle Selbstverständnis der Schweiz
verhandelt wurde.

Herausragend im Zürcher Band ist der Beitrag von Elisabeth Joris über vier Pionierinnen vor und zeitgleich zur 68er-Bewegung. Berta Rahm führte als Architektin von 1940 bis 1966 in Zürich ein eigenes Büro und avancierte später zur Verlegerin feministischer Literatur. Auch die Juristin Gertrud Heinzelmann, die Journalistin und Schriftstellerin Laure Wyss und die Kinderärztin und Psychologin Marie Meierhofer waren in zahlreichen feministischen Zusammenhängen aktiv. In der Lesart von Joris ist der Marsch der Frauen nach Bern von 1969 eher als Zeichen der Kontinuität denn als Bruch zwischen der alten und der neuen Frauenbewegung zu deuten – obwohl nicht wenige der alten Frauenrechtlerinnen die neue Bewegung mit ihren schrilleren Ausdrucksformen ablehnten.

Der Berner Sammelband Rebellion unter Laubenbögen ist stärker narrativ und weniger analytisch ausgerichtet als das Zürcher Pendant, er richtet sich an ein breiteres Publikum. Manches schöne Detail ist zu finden, etwa eine Beschreibung wie Berner Aktivisten 1961 einen Fackelumzug zum «Grab» des legendären Riesen Botti bei zwei Findlingen organisierten. Georg Weber zeichnet in der Nachfolge der umfangreichen Werke von Fredi Lerch das reiche kulturelle Leben in Bern nach: die Protagonisten der Gegenkultur trafen sich in legendären Orten wie der Junkere 37, so auch der Lebenskünstler und Schriftsteller René E. Mueller, der, als personifizierte Antithese zu jeglicher Bürgerlichkeit, alle anderen um Geld anpumpte. Eine wichtige Rolle kommt dem Mythenforscher und Schriftsteller Sergius Golowin zu, der mit seiner Faszination für die Welt der Fahrenden, der Kräuterkundigen, der Kartenleger und der Handleser eine Gruppe von Gleichgesinnten um sich scharen konnte.

Zu einem bedeutenden Treffpunkt der Berner Gegenbewegung, geradezu einem «Mekka der Avantgarde», entwickelte sich die Kunsthalle mit ihrem Leiter Harald Szeemann. Besonders dessen Ausstellung «When Attitudes Become Form» (1969), die durch den Tabakgiganten Philip Morris finanziert wurde, hat sich ins kulturelle Gedächtnis eingeprägt, wie François Grundbacher in seinem Beitrag ausführt. Die mutwillige Zerstörung des Berner Asphalts durch den amerikanischen Künstler Michael Heizer wurde als starkes Zeichen des «Aufbruchs» gedeutet. Doch stiessen die teils enigmatisch-konzeptionellen Werke bei vielen Besuchern auf Unverständnis und die Zeitung Der Bund veröffentlichte eine distanzierte Rezension mit dem Titel: «An meiner Schuhsohle klebt ein Kunstwerk». Auch der zwischen 1955 und 1962 erbauten Siedlung Halen, einer Ikone des Neuen Bauens in einer Waldlichtung vor den Toren Berns, ist im Band ein informatives Kapitel gewidmet. Für den Bau der Eigentumswohnungen griffen die Architekten des Büros Atelier 5 in der Nachfolge Le Corbusiers auf industriell vorgefertigte Teile zurück. Das Architektenteam bestand ausschliesslich aus Männern, die 1961 in legerer Haltung gemeinsam auf einer Fotografie posierten. Doch wäre es den Autoren des Sammelbandes gut angestanden, ihren Blick auch auf die damals aktiven Frauen zu richten. Selbst in der Halensiedlung hätten sie fündig werden können. Immerhin war die dort lebende Esther Thormann 1956 in der deutschsprachigen Erstaufführung des avantgardistischen Stücks von Pablo Picasso «Wie man Wünsche am Schwanz packt» in Bern in der Rolle der «fetten Angst» aufgetreten, zusammen mit Meret Oppenheim, Beatrice Tschumi und Lilly Keller. Auch das Kapitel der Berner Literatenszene kommt aus nicht nachvollziehbaren Gründen nahezu ohne die schreibenden Frauen aus. Warum finden Guido Bachmann, Walter Vogt oder Kurt Marti Erwähnung, nicht aber Mariella Mehr, die doch an vielen zentralen Diskursen der 68er mitbeteiligt war? In einem offenen Brief «Gopferdeckelduseckel » gegen die «Berner Poesietage ohne Poesie» hatte sie 1984 den dort auftretenden Autoren Paul Nizon, H.C. Artmann, E.Y. Meyer und Otto F. Walther entgegengeschleudert: «da sasst ihr und ich hätte jeden von euch fragen wollen, mit welchem selbstverständnis ihr euch erlaubt, das publikum mit derart mittelmässiger, provinzlerischer und sexistischer literatur zu beleidigen, doch ihr sasst so selbstgerecht hinter euren gläsern, befriedigt von eurem billigen onanierreigen, dass mir kotzübel wurde.» Gerade in einem Band, in dem das breite kulturelle Erbe der 68er in Bern verhandelt wird, hätten die männerzentrierten Strukturen des damaligen Berner Literaturbetriebs nicht unhinterfragt und allzu unkritisch reproduziert werden sollen.

Insgesamt bieten beide Publikationen reiches Anschauungsmaterial zu den verschiedenen Facetten der 68er-Bewegung in Zürich und Bern. Manche Entdeckung lässt sich machen, nicht zuletzt auch auf den ansprechenden Fotografien. Man fühlt sich geradezu aufgefordert, sich erneut in die damalige Literatur einzulesen und in die Musik einzuhören.

Zitierweise:
Andreas Schwab: Erika Hebeisen, Gisela Hürlimann, Regula Schmid (Hg.): Reformen jenseits der Revolte. Zürich in den langen Sechzigern, Zürich: Chronos, 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 2, 2019, S. 349-351.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 2, 2019, S. 349-351.

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